Whangarei, Februar 1920
Vivian war wie berauscht, als der Zug in den Bahnhof von Whangarei einfuhr. Nicht nur, weil sie sich in Freds Gesellschaft so unendlich geborgen fühlte, sondern auch weil eine Landschaft an ihr vorübergezogen war, von der sie kaum den Blick hatte wenden können. Sie hatte sich die Nase an der Scheibe fast platt gedrückt, damit ihr ja nichts entging. Malerische Buchten mit kleinen Inseln wechselten ab mit sattgrünen Hügeln, die schließlich zu einer imposanten Berglandschaft wurden. Überall auf den Wiesen weideten Schafe. Gigantische Wasserfälle rauschten in breite Flüsse hinab. Dann plötzlich tauchte wieder das Meer auf, aber völlig anders als um Auckland herum. Das Wasser schimmerte blaugrün, und die Buchten sahen aus wie gemalt. Weiße Stände erstreckten sich kilometerweit. Und auch hier gab es überall kleine Inseln. Manchmal wuchs nur ein einziger Baum darauf. So winzig waren sie.
Vor lauter Begeisterung für die vorbeiziehende Landschaft hatte Vivian während der Fahrt nicht allzu viel mit ihrem Begleiter gesprochen. Außer dass sie sich von ihm die Wunder der Natur hatte erklären lassen und als sie wiederholt in Freudenschreie ausgebrochen war. Doch jetzt, da der Zug hielt, musste sie sich wohl oder übel vom Fenster abwenden.
Wie selbstverständlich nahm Fred ihr Gepäck und bat sie, ihm zu folgen.
Eine Droschke brachte sie vom Bahnhof zu einem Hotel an der Hauptstraße. Vivian hatte den Eindruck, dass der Ort aus nicht viel mehr als einer langen Straße bestand, die von kleinen Holzhäusern gesäumt wurde. Über einem dieser Häuser lud das Schild Whangarei Hotel zum Übernachten ein. Wie erwartet, blieb Fred vor dem zweistöckigen Holzhaus stehen.
»Viel Auswahl haben wir nicht«, stellte er lachend fest und bugsierte die Koffer durch die Tür ins Innere des Gebäudes. Der Besitzer des Hotels, ein alter gebückter Mann mit einem wettergegerbten Gesicht brachte sie zu ihren Zimmern in der oberen Etage. Sie lagen nebeneinander und waren gleichermaßen bescheiden eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank. Dann zeigte ihnen der Alte die Waschräume am Ende des Flures und verschwand.
Vivian war ein wenig verlegen, als sie sich vor ihrer Zimmertür von Fred verabschiedete. Sie war noch nicht so oft in ihrem Leben in einem Hotel abgestiegen. Und wenn, dann nur als Kind in Begleitung von Janes Eltern. Aber noch niemals allein mit einem erwachsenen Mann. Wie alt er wohl genau sein mag?, fragte sich Vivian zum wiederholten Mal.
»Wollen Sie sich noch umziehen, oder können wir uns gleich auf den Weg zur anglikanischen Kirche machen?«, erkundigte sich Fred sichtlich gut gelaunt.
Vivian sah zweifelnd an sich hinunter. Eigentlich fühlte sie sich wohl in diesem Kleid. Außerdem war es schön luftig, und das konnte hier oben im Norden nur von Vorteil sein. Sie hatte es gleich gespürt, als sie aus dem Zug gestiegen war. Hier war es noch wärmer als in Auckland. Das hatte sie nicht nur auf der Haut gefühlt, sondern auch aus den vielen Palmen vor dem Bahnhof geschlossen, deren Blätter sich träge im Sommerwind gewiegt hatten.
»Ich gehe so«, erklärte sie kurzerhand.
»Gut, aber als Erstes kaufen wir Ihnen einen Sonnenhut. Sie glauben gar nicht, wie die Sonne hier vom Himmel herabbrennen kann.«
»Dann hole ich mir ein wenig Geld«, flötete sie, nun schon etwas unbekümmerter, aber Fred sagte bestimmt: »Nein, ich will Ihnen den Hut schenken. Behalten Sie Ihr Geld ruhig.«
»Das ist lieb von Ihnen, aber glauben Sie mir, der Bischof hat sich nicht lumpen lassen. Er hat meiner Mutter noch einmal einen Batzen Geld geschickt, wovon ich mir neue Kleider gekauft habe.«
Über Freds Gesicht huschte ein breites Grinsen. »Womit Sie ihn dann auch sichtlich erfreut haben. Sagen Sie, Vivian, wollen Sie ihn eigentlich weiterhin nur den Bischof nennen?«
»Was ist dabei? Ich meine, ich könnte auch Mister Newman sagen.«
»Wie wäre es mit Vater?«
Vivians Miene verfinsterte sich. »Niemals! Das habe ich schon vor der Ohrfeige so beschlossen, aber nun werde ich einen Teufel tun, ihn Vater zu nennen.«
Fred stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich kann Sie ja verstehen, Vivian. Ich weiß doch auch nicht, was in diesem Mann vorgegangen ist, als er Ihre Mutter und Sie verlassen hat, um meine Mutter zu heiraten und mich als seinen Sohn auszugeben. Hat Ihre Mutter denn jemals erwähnt, wie sie sich seinen Fortgang erklären konnte?«
»Der Brief!«, rief Vivian erschrocken. »Sie hat mir einen Brief mitgegeben, den ich erst auf dem Schiff lesen sollte, aber dazu bin ich noch gar nicht gekommen. Ich hatte ihn ein paarmal in der Hand, aber es hätte mir zu wehgetan, ihre Worte mit dem Wissen zu lesen, dass ich sie nie wieder umarmen darf...«
Fred hob die Schultern. »Also, meinetwegen dürfen Sie erst einmal Ihren Brief lesen. Ich warte so lange. Sie können ja klopfen.«
»Nein, Fred, lassen Sie uns gehen. Ich lese ihn heute vor dem Einschlafen. Und erzählen Sie mir lieber, welcher Geschichte Sie auf der Spur sind. Ich bin doch völlig ahnungslos, was uns hier erwartet. Werden hier heute vielleicht ein paar besonders schöne Schafe verkauft, oder...?« Vivian unterbrach sich hastig und schlug erschrocken die Hände vor den Mund. »Oh, bitte entschuldigen Sie, Fred, das war nicht nett von mir. Es ist nur so - wenn man in diesen Ort kommt, kann man sich nicht so recht vorstellen, dass hier je etwas Aufregendes geschieht.«
»Schon gut, Whangerei ist natürlich nicht London, und Ihren Jack the Ripper können wir nicht vorweisen, aber dennoch muss ich Ihnen widersprechen. Seit ich bei der Zeitung arbeite, war ich schon mehrfach hier. Zum letzten Mal, als man einen Schafzüchter in seinem Blut aufgefunden hat, vom Liebhaber seiner Frau kaltblütig ermordet. Wollen Sie Einzelheiten hören?«
Vivian lachte. »Nein, bitte nicht! Ich glaube es Ihnen ja, aber wir sind doch wohl nicht hier, um über den Mord an einem Schafszüchter zu berichten, oder? Haben Sie nicht etwas von einem alten Mann erwähnt? Warten Sie, ich schließe nur noch mein Zimmer ab, dann können wir uns in die Arbeit stürzen.«
Als sie schließlich in die gleißende Sonne hinaustraten, wusste Vivian, dass Fred mit dem Hut recht hatte. Die Sonne brannte regelrecht auf ihrem Gesicht.
»Nun erzählen Sie doch endlich! Was ist das für eine Geschichte?«
Fred räusperte sich. »Auf dem Vorplatz der anglikanischen Kirche, der Christ Church, wollen die Kirchenoberen ein Denkmal errichten lassen, und zwar für einen Missionar, der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der Bay of Islands - die liegt nördlich von hier - gewirkt hat. Es ist...« Er stockte und atmete tief durch, bevor er hastig sagte: »Ach, warum sollte ich Ihnen die Wahrheit vorenthalten? Sie werden sie ja ohnehin erfahren. Der Name des Missionars ist Carrington. Er ist ein Vorfahr Ihres Vaters, sein Urgroßvater, um es exakt zu benennen. Aber ich muss Sie von vornherein bitten, über alles, was wir hier vielleicht erfahren werden, Stillschweigen zu bewahren.«
»Wem sollte ich es wohl erzählen? Ich kenne doch keinen Menschen«, erwiderte Vivian empört. »Und weiter?«
»Es gibt jemanden, der nicht damit einverstanden ist, dass dieser Carrington geehrt wird. Ein alter Maori namens Matui Hone Heke. Er sitzt fast täglich auf dem Platz, wo das Denkmal errichtet werden soll, und verkündet, der Reverend habe diese Ehre nicht verdient. Doch was er damit meint, hat er bislang nicht verraten. Er spricht oder singt in Rätseln, die keiner versteht.«
»Ich glaube, ich kenne des Rätsels Lösung. Wenn der Reverend auch nur halbwegs so ein Scheinheiliger gewesen ist wie der Bischof, sollte man ihm kein Denkmal setzen.«
»Ja, wer weiß? Vielleicht liegen Sie gar nicht so falsch, aber woher will der alte Maori das wissen?«
»Genau, das müssen wir herausfinden.« Vivian hatte vor lauter Aufregung gerötete Wangen bekommen.
»Ja, aber erst einmal suchen wir dieses Geschäft auf.« Fred deutete auf eine Schaufensterauslage, die aus Dutzenden von Hüten bestand.
Im Laden roch es nach Mottenpulver, und eine ältliche, streng blickende, ganz in Schwarz gekleidete Dame fragte sie nach ihren Wünschen.
»Wir hätten gern einen Sonnenhut für die junge Dame.«
Die Verkäuferin nickte eifrig und verschwand in einem Hinterraum, bevor sie wenig später mit einem Arm voller breitkrempiger Strohhüte zurückkehrte.
Diese legte sie einen nach dem anderen auf dem hölzernen Verkaufstisch ab.
»Hier haben wir unsere schönsten Modelle«, erklärte die Dame überschwänglich und nahm einen Strohhut mit einer riesigen Krempe in die Hand. »Der würde Ihnen sicherlich gut stehen«, sagte sie, während ihr Blick an Vivians Frisur hängen blieb. Sie verzog sichtlich irritiert das Gesicht.
Fred konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Probieren Sie ihn doch mal!« Widerwillig setzte sich Vivian den Hut auf und brach, kaum dass sie in den Spiegel blickte, in lautes Lachen aus. Der Hut war so ausladend, dass er fast wie ein Wagenrad auf ihrem Kopf thronte. Sie entledigte sich hastig des riesigen Teils und besah sich noch einmal kritisch die anderen Hüte. Plötzlich breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus. Ganz versteckt hatte sie einen Hut ohne Krempe entdeckt. Ein helles Strohhütchen, verziert mit einer grünen Blume. Begeistert setzte sie es auf- und tatsächlich, es passte wie angegossen.
»Ich nehme diesen Hut«, erklärte sie, doch die Verkäuferin rümpfte die Nase. »Der schmeichelt Ihnen aber gar nicht.«
»Da bin ich anderer Meinung«, lachte Fred. »Er steht Ihnen vorzüglich. Wir nehmen ihn.« Und schon hatte er seine Geldbörse gezückt und bezahlt.
Vivian strahlte über das ganze Gesicht und hakte ihn übermütig unter, als sie das Geschäft verließen und auf die Straße traten.
»Wissen Sie, dass Sie der netteste Mann sind, der mir je begegnet ist?«, raunte sie ihm ins Ohr.
»Das hört doch jeder Mann gern, dass er nett ist«, erwiderte Fred mit einem spöttischen Unterton. »Kommen Sie, wir müssen der Bank Street nur immer geradeaus folgen.«
Schon während sie sich dem Kirchenvorplatz näherten, erblickten sie einen Pulk von Schaulustigen. Fred nahm Vivian bei der Hand und drängte sich mit ihr bis nach ganz vorn. Es bot sich ihnen ein seltsamer Anblick: Auf dem Rasen vor der Kirche hockte ein alter Mann mit weißem Haar und einem gegerbten Gesicht, auf dem das auffällige Tattoo aussah, als schlüge es Falten. Er hatte die Augen geschlossen und die Arme gen Himmel gestreckt. Dabei umgab ihn eine ungeheure Würde. Er stieß Worte in einer für Vivian völlig unbekannten Sprache hervor. Und obwohl der Gesang in ihren Ohren fremdartig klang, zogen die Töne, die der alte Mann von sich gab, sie sogleich in ihren Bann. Vivian konnte gar nichts dagegen tun. Die Intensität, die dieser Mann ausstrahlte, nahm sie vom ersten Augenblick an gefangen. Sie war froh, dass Fred immer noch ihre Hand hielt und sie in diesem magischen Augenblick nicht allein ließ. Jeder einzelne Ton berührte sie bis in die Tiefen ihrer Seele. Sie lauschte nur noch der Stimme des alten Mannes und hätte ihm stundenlang zuhören können. Erst als sie Fred mit einem der Umstehenden tuscheln hörte, erwachte sie aus ihrem schwebenden Zustand. Sie wandte sich um und blickte in die braunen Augen eines schwarzhaarigen schlanken Mannes. Er trug einen Anzug - dem von Fred nicht unähnlich - und reichte erst ihr und dann Fred die Hand. »Ich bin Ben vom Chronicle aus Wanganui. Ich habe hier im Norden meine Maori-Verwandtschaft besucht und bin zufällig über diese Sache gestolpert. Und weil es um einen Vorfahren von Bischof Newman geht, habe ich meinem Chef telegrafiert, und der ist interessiert. Aber Sie sehen auch nicht aus, als stammten Sie aus diesem Nest. Von welcher Zeitung sind Sie?«
Dabei blickte er Vivian, nicht Fred an, was diesen aber nicht davon abhielt, dem Kollegen auf seine Frage zu antworten. »Ich bin Frederik vom Herald, und das ist meine Mitarbeiterin Vivian.«
»Sehr erfreut«, erwiderte Ben und ließ den Blick nicht von Vivian.
»Ja, Ben, ich habe Sie nur angesprochen, weil ich dachte, dass Sie mir vielleicht übersetzen könnten, was er singt. Ich habe Sie für einen Maori gehalten, der seine Sprache kennt«, fuhr Fred geschäftig fort.
»Das haben Sie richtig gesehen, jedenfalls zur Hälfte. Ich spreche seine Sprache. Er besingt eine Pakeha namens Lily Ngata und nennt sie den Engel der Maori. Aber Sie werden sich an diesem Mann die Zähne ausbeißen. Er führt keine Gespräche mit der Presse. Nicht einmal ich als halber Maori habe Glück bei ihm. Wenn man ihn fragt, was er möchte, dann wiederholt er immerzu, dies könne nicht der richtige Platz für den alten Reverend sein ... Aber mich interessiert die Geschichte dahinter. Na ja, wem erzähle ich das? Hinter der sind Sie jawohl selbst her. Natürlich will man wissen, was der Alte gegen den Reverend hat. Der soll doch eigendich ein Maori-Freund gewesen sein. Und über diese Frau ist auch nichts herauszukriegen. Haben Sie denn schon Ihr Glück versucht?«
»Nein, wir sind gerade erst angekommen«, entgegnete Fred rasch.
»Na dann viel Erfolg. Vielleicht läuft man sich wieder einmal über den Weg«, entgegnete Ben und funkelte Vivian mit einem dermaßen feurigen Blick an, dass ihr die Knie weich wurden. Nun hatte sie also ihren ersten Maori kennengelernt. Sie blickte ihm noch eine Zeit lang hinterher.
»Dem würde ich meine Geschichte auch nicht unbedingt anvertrauen wollen«, bemerkte Fred missbilligend.
»Warum nicht? Weil er anders aussieht als Sie? Weil er ein Maori ist?«, fuhr Vivian ihn an, ohne zu überlegen.
Fred war knallrot angelaufen. »Nein, das hat nichts, aber auch gar nichts mit seiner Herkunft zu tun. Wie kommen Sie dazu, mir solche Vorurteile zu unterstellen?«
Vivian wurde es abwechselnd heiß und kalt. Sie hatte Fred offenbar tief getroffen. Das hatte er nicht verdient.
»Entschuldigen Sie, das ist mir so herausgerutscht, weil Sie sich so abwertend über ihn geäußert haben. Und da wurde ich an all das erinnert, was ich durchleiden musste, weil ich anders aussehe.«
»Ich glaube nicht, dass Ben darunter leidet. Er ist sehr von sich überzeugt. Und so etwas ist unabhängig von der Hautfarbe. Ich traue dem Burschen nicht.«
»Ich habe mich bei Ihnen entschuldigt. Können wir jetzt das Thema wechseln? Wir wollen uns doch nicht um einen Menschen streiten, den wir beide nie wieder sehen werden«, bemerkte Vivian versöhnlich.
»Darauf würde ich nicht wetten«, entgegnete Fred spöttisch und deutete hinter sie. Sie fuhr herum und erblickte Ben, der breit lächelte. »Ach, ich habe es mir übrigens anders überlegt. Ich werde noch ein wenig dranbleiben. Notfalls werde ich mich Ihnen anschließen, wenn Sie Ihr Glück versuchen.«
Vivian war hin- und hergerissen. Der Bursche hat es faustdick hinter den Ohren, vermutete sie. Trotzdem erwiderte sie sein Lächeln, bevor sie sich wieder dem Spektakel auf der Wiese zuwandte.
In dem Augenblick riss der alte Mann auf dem Rasen die Augen weit auf. Sein Blick war eindringlich und strahlte jugendliche Kraft aus, als ob er nicht zu der alt gewordenen Hülle des Maori gehöre. Und dann trafen sich Vivians und seine Blicke. Grenzenloses Erstaunen stand in seinen Augen zu lesen. Er fixierte sie, schien sie mit seinem Blick aufzusaugen, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie starrte ihn ebenfalls unverwandt an. Dann machte er eine Bewegung mit seiner knochigen Hand. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, was er ihr damit sagen wollte. Er winkte sie zu sich heran. Vivian zögerte. Ringsum war es totenstill geworden. Jeder der Zuschauer spürte, dass zwischen der jungen Frau und dem alten Mann etwas Außergewöhnliches vor sich ging.
Vivian ließ den Blick nicht von ihm, während sie sich ihm Schritt für Schritt langsam näherte. Er machte ihr ein Zeichen, sich zu ihm auf den Rasen zu setzen. Sie gehorchte und ließ sich in das warme grüne Gras sinken. Als er zu sprechen begann, gab es für sie nur noch seine Stimme. Alles andere ringsum war vergessen. Er redete sie in dieser fremden Sprache an, die ihr aber, ohne dass sie ein einziges Wort verstand, merkwürdig vertraut vorkam. Erst nach einer ganzen Weile bemerkte sie schüchtern: »Ich verstehe Ihre Sprache nicht, aber sie klingt wunderschön.«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des alten Mannes. »Woher kommen Sie?«, fragte er dann ganz und gar irdisch und in ihrer Sprache. Das holte Vivian auf den Boden der Realität zurück. »Ich ... ich komme aus London und bin erst gestern in diesem schönen Land angekommen.«
»Und Sie waren noch nie zuvor in Neuseeland?«
»Nein, noch nie.«
Er musterte sie voller ungläubigem Staunen. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so angestarrt habe. Sie besitzen große Ähnlichkeit mit einer Frau, die ich einst im Stich gelassen habe, und zwar als sie mich am meisten gebraucht hätte ...« Er stockte, und sein Blick schweifte in die Ferne. Plötzlich war sein Gesicht von Schmerz gezeichnet. Vivian hielt den Atem an. Sie vermutete, dass er jetzt lieber allein sein wollte. Vorsichtig machte sie sich zum diskreten Rückzug bereit, doch der Alte wandte sich ihr nun wieder zu und bat sie zu bleiben. Dann sah er an ihr vorbei in die Ferne und murmelte: »Es ist mir, als wäre sie mir von den Ahnen zurückgeschickt worden. Sie hatte das längste schwarze Haar, das ich je gesehen hatte ...«
Langes schwarzes Haar. So wie ich es gestern noch besessen habe, durchzuckte es Vivian. Langsam wurde ihr die Sache unheimlich.
Entschlossen sprang sie vom Boden auf und bemerkte hastig: »Ich muss wieder zu meinem Begleiter. Er wird Sie gleich aufsuchen. Er ist nämlich aus Auckland von der Zeitung.«
Das Gesicht des Alten verfinsterte sich. »Ich rede nicht mit den Zeitungsleuten. Sie drehen einem das Wort im Mund um und wittern Sensationen, wenn es mir um Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und die Kraft der Ahnen geht.« Er deutete mit seiner faltigen Hand auf das geschnitzte Bildnis einer Frau, das aufrecht an einen Baum gelehnt stand. »Schau, meine Tochter, sieh sie dir nur an, sie hat die Ehre verdient, nicht er. Aber ich will nicht, dass sich die Zeitungsmeute auf diese Geschichte stürzt. Sie gehört mir und dem, der davon nichts wissen will.«
Vivian war verunsichert. Das waren keine besonders guten Aussichten, hinter die Wahrheit dieser merkwürdigen Angelegenheit zu kommen. Und außerdem hatte sie sehr wohl bemerkt, wie vertraulich er sie anredete. Meine Tochter? Langsam wurde ihr diese Begegnung mehr als unheimlich, doch das versuchte sie zu verbergen, indem sie ihm kämpferisch erwiderte: »Wir werden es trotzdem versuchen. Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung.«
»Pass gut auf dich auf, mein Kind«, flüsterte er, ohne auf ihre Worte auch nur annähernd einzugehen. Er sprang so leichtfüßig vom Boden auf, als wäre er ein junger Spund. Vivian bemerkte, dass er unter seinem Federmantel die Kleidung eines Pakeha trug. Sie wollte ihm noch die Hand geben, doch da war er bereits auf sie zugetreten, legte seine Stirn an ihre Stirn und berührte mit seiner Nase ihre Nase. Vivian war so erschrocken, dass sie kurz zurückzuckte, doch dann ließ sie es geschehen. Und merkwürdigerweise war es ihr nicht einmal unangenehm. Bevor der Alte seiner Wege ging, murmelte er ihr noch ein paar Worte in seiner Sprache zu. Dabei meinte sie »Makere« herauszuhören, weil er es mehrfach beschwörend wiederholte. Vivians Blick fiel noch einmal auf die geschnitzte Holzfigur. Die Frau besaß ein ausdrucksstarkes Gesicht, das sie magisch anzog. Deshalb starrte sie die Schnitzerei eine Weile an, bis ein Raunen sie aus ihrem entrückten Zustand riss.
Als sie sich umdrehte, waren die Augen aller auf sie gerichtet. Sie erschrak, denn sie hatte völlig vergessen, dass ihre merkwürdige Begegnung mit dem alten Maori unter der Beobachtung vieler Menschen stattgefunden hatte. Sie wurde rot und eilte zu Fred, der sie sogleich von der gaffenden Menge wegführte.
»Was hat er gesagt?«, fragte Fred aufgeregt, kaum dass sie sich ein Stück von den Schaulustigen entfernt hatten.
Vivian seufzte. »Ich erinnere ihn an jemanden, und er möchte nicht mit Zeitungsleuten sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass wir es trotzdem versuchen ...« Sie unterbrach sich und spähte die Straße hinunter. Dort stand der alte Mann und winkte ihnen zu.
»Vielleicht haben wir Glück«, raunte Vivian. »Er wartet auf uns.«
»Vielleicht«, entgegnete Fred gedehnt und fügte hastig hinzu: »Ich glaube, es wäre besser, wenn ich ihm nicht gleich sagen würde, dass ich ... ich meine ... wir, also eher Sie, dass Sie die Tochter des Bischofs sind und ich sein Stiefsohn.«
»Sie wissen ja, wie ich zu diesen Lügen stehe, aber in dem Fall gebe ich Ihnen recht. Ich glaube, es wäre von Vorteil, wenn Sie sich ihm mit dem Namen Summer und nicht mit Newman vorstellen würden.«
»Sie sind ja ganz schön durchtrieben, junges Fräulein«, scherzte Fred, als sie auf den alten Mann zutraten, der im Schatten einer Palme auf sie wartete.
»Darf ich vorstellen?«, sagte Vivian höflich. »Das ist mein Freund vom Herald, Frederik ...«
»Summer«, ergänzte Fred, was ihm einen durchdringenden Blick des Maori einbrachte. Völlig unbeschwert streckte der junge Reporter dem alten Mann eine Hand entgegen, die dieser nach kurzem Zögern ergriff. »Ich habe schon gehört, dass Sie ungern mit der Presse über Ihre Abneigung gegen den Missionar Walter Carrington sprechen wollen ...«, plauderte Fred unbeschwert darauflos.
»... Sie reden Unsinn, junger Mann«, unterbrach ihn der alte Maori unwirsch. »Ich empfinde keine Abneigung gegen ihn, es ist viel mehr. Ich kann ein großes Unrecht nicht ungesühnt lassen. Es ist der Wille der Ahnen. Nur deshalb haben sie mich noch nicht zu sich gerufen. Damit ich verhindere, dass eine Statue des scheinheiligen Missionars an dieser Stelle errichtet wird. Und damit ich dem Denkmal das Gesicht jener geben kann, die es verdient hat. Sehen Sie mich doch an. Ich dürfte schon lange nicht mehr am Leben sein. Wissen Sie, dass ich die Letzte meines Stammes vor einer halben Ewigkeit begraben habe? Nun gibt es nur noch mich und jenen, der seine Wurzeln verleugnet...« Er stockte.
Fred trat derweil verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte sagen, dass ich hoffe, Sie machen eine Ausnahme für mich und erzählen mir, worum es hier eigentlich geht. Warum Sie Tag für Tag auf diesen Platz kommen und wer diese Frau ist, die Sie an seiner Stelle geehrt sehen möchten und deren Bildnis Sie offenbar geschnitzt haben.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde mit keinem darüber reden, der daraus einen Zeitungsartikel macht.«
»Auch dann nicht, wenn ich Ihnen verspreche, dass ich nichts schreibe, was Sie nicht möchten?«
Die Augen des alten Maori verengten sich zu Schlitzen. »Sie sprechen mit doppelter Zunge, Mister Summer - oder sollte ich Sie lieber doch Mister Newman nennen?«
Fred sah den alten Mann entgeistert an. »Woher kennen Sie meinen Namen? Ich meine, woher wissen Sie, dass ich ...«
»Ich weiß über den Bischof von Auckland, was ich wissen muss. Er kehrte vor über zwanzig Jahren nach einer langjährigen Abwesenheit nach Neuseeland zurück. Mit seinem fünfjährigen Sohn und seiner australischen Frau. Sein Sohn arbeitet inzwischen beim Herald. Man munkelt, er habe eine große Karriere vor sich und sei sehr ehrgeizig.« Der Alte lachte aus voller Kehle, als er in Freds verblüfftes Gesicht blickte. »Dass Sie dieser Frederik Newman sind, weiß ich vom alten John. Ihm gehört das Hotel. Ich hatte ihn gebeten, mir mitzuteilen, welche Zeitungsleute bei ihm wohnen, damit ich weiß, wie groß die Gefahr ist, aufs Kreuz gelegt zu werden. Einer Ihrer Kollegen hat es gestern erst versucht. Er stellte sich mir als Händler von Knochenamuletten vor und tat so, als würde er in unserer Tradition leben. Dabei steckte so viel Pakeha in ihm, dass er mich nicht eine Sekunde lang täuschen konnte ...«
Fred grinste. »Das kann doch nur der Bursche aus Wanganui gewesen sein.« Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Ach, was würde ich darum geben, wenn Sie mir Ihre Geschichte dendoch anvertrauen würden.«
»Mister Newman, Ihnen als Zeitungsmann kann und will ich nicht mehr dazu sagen, als dass Ihr Vorfahr es nicht verdient hat, geehrt zu werden, und dass Lily Ngata eine bewundernswerte und mutige Frau gewesen ist...« Der Alte hielt inne und musterte den Reporter kritisch. »Aber das sollten Sie doch eigentlich am besten wissen.«
»Entschuldigen Sie bitte, aber diesen Namen habe ich noch nie zuvor gehört. Woher sollte ich ihn kennen?«
In den Augen des Maori funkelte es gefährlich. Dann wurde sein Blick weicher, und er sah Fred mitleidig an.
»Sie wissen es also wirklich nicht? Er ist sein ganzes weiteres Leben lang vor der Wahrheit davongelaufen. Aber sie wird ihn einholen. Eines Tages wird sie ihn einholen, und dann wird er sich den Ahnen stellen müssen.«
Vivian war wie gelähmt. Zum ersten Mal, seit sie in diesem Land angekommen war, fühlte sie deutlich, dass ein Teil ihrer eigenen Wurzeln möglicherweise hier zu finden war. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Und hatte sie nicht ein Recht zu erfahren, was es mit dieser Frau auf sich hatte? Ohne zu wissen, wie ihr geschah, spürte sie auf einmal, dass sie etwas anderes in den Norden geführt hatte als die bloße Neugier auf Freds Arbeit und ihr Interesse am Journalismus. Da hörte sie sich bereits laut sagen: »Und wenn Ihnen Frederik schwört, kein einziges Wort darüber in der Zeitung erscheinen zu lassen, würden Sie uns dann verraten, welches Geheimnis sich dahinter verbirgt?«
Fred blickte Vivian entsetzt an.
Der alte Mann sah zweifelnd von Vivian zu Fred. »Wenn Frederik offen für das Geheimnis seiner Ahnen ist und mir schwört, dass er sein Wissen ausschließlich dafür verwendet, die Ahnen zu ehren, werde ich es ihm verraten. Es ist sein gutes Recht, Kenntnis zu erlangen, woher er kommt und wohin er eines Tages geht. Was kann er dafür, dass sein Vater ein Leben lang auf der Flucht ist?« Er musterte Fred durchdringend. »Aber eines musst du mir versprechen, mein Junge. Du darfst mich nicht dafür hassen. Die Wahrheit ist stärker als die Angst und alle diese Lügen. Sie wird dich aus dem Dunkel hinausführen... Und du musst mir vertrauen und mich nicht dafür verabscheuen wie ...« Er stockte und blickte statt Frederik Vivian an.
Sie bekam von Kopf bis Fuß eine Gänsehaut, denn in Wahrheit galten diese Worte schließlich ihr. Es ging nicht um Freds Geschichte, sondern um ihre eigene. Ob der alte Maori im tiefsten Innern ahnte, dass in Wirklichkeit sie diejenige war, um deren Familie es hier ging? Als ob er ihre Gedanken lesen könne, fragte er: »Warum bist du von so weit her in unser Land gekommen?«
Vivian wurde bleich. Am liebsten hätte sie ihm auf der Stelle die ganze Wahrheit gesagt, denn es fiel ihr unendlich schwer, den Maori zu belügen. Zumal sie das Gefühl hatte, er würde sie ohnehin durchschauen.
»Ich ... ich wurde hergeschickt, um ...«, stammelte Vivian, der diese überraschende Nähe zu dem Maori befremdlich erschien und zugleich angenehm war.
»Sie ist eine entfernte Verwandte«, warf Fred rasch ein.
Der alte Mann schüttelte unwirsch den Kopf. »Von wem?«
Vivian wurde es abwechselnd heiß und kalt, und sie wusste beim besten Willen nicht, was sie erwidern sollte, ohne ihre wahre Herkunft zu verraten.
»Eine Nichte meiner Mutter«, ergänzte Fred hektisch.
»Ich hätte schwören können, sie ist mit dem Bischof verwandt«, bemerkte der alte Mann nachdenklich.
»Kennen Sie meinen Vater denn persönlich?«, fragte Fred sichtlich erschrocken.
»Besser, als ihm lieb ist«, entgegnete der Maori. »Und deshalb werde ich euch alles erzählen. Kommt morgen früh in mein Dorf oben auf dem Mount Parahaki. Seht nach Nordosten. Das ist mein Zuhause. Es wohnen nur noch wenige von uns dort oben. Fragt nach dem alten Matui Hone Heke. Das Dorf liegt linker Hand, wenn ihr am Gipfel seid. Mein Haus erkennt ihr daran, dass es einerseits ganz im Stil der Pakeha erbaut, die Front aber mit Schnitzereien verziert ist. Ihr könnt es nicht verfehlen. Aber ich muss noch ein wenig ruhen, bis ihr kommt. Ihr werdet etwa eine Dreiviertelstunde durch den Busch brauchen. Und seht auch nach links und rechts. Es gibt einen Wasserfall und heilige Kauribäume.«
Dann eilte der Alte ohne ein weiteres Wort davon. Fred sah Vivian ungläubig an. »Kann er hellsehen? Ich glaube, der ahnt, dass Sie mit dem Bischof verwandt sind. Hoffentlich bekommt er nicht auch noch heraus, dass ich nur sein Stiefsohn bin. Er ist mir richtig unheimlich. Na ja, das muss ich in meinem Artikel ja nicht erwähnen. Aber jetzt kommen Sie schnell zur Kirche zurück! Ich möchte ein Foto von der Schnitzerei machen. Und zwar im Mittagslicht. Jetzt glühen die Augen aus Pauamuscheln besonders hell...«
»Du solltest ihm schwören, kein Wort darüber zu schreiben. Und natürlich keine Fotos zu machen. Hast du das nicht kapiert? Es gibt keinen Artikel«, unterbrach Vivian ihn empört. Vor lauter Zorn vergaß sie jegliche Förmlichkeit, mit der sie ihm zuvor begegnet war.
Fred lachte verlegen. »Nun, irgendetwas werde ich schon aus der Geschichte herausholen müssen. Das ist schließlich meine Aufgabe. Ich bin doch nicht völlig umsonst nach Whangarei gefahren und kann auf keinen Fall mit leeren Händen zurückkehren.«
»Umsonst? Ich fasse es nicht. Merkst du denn gar nicht, dass er im Begriff steht, uns ein Geheimnis anzuvertrauen? Aber er erzählt es uns nur unter der Bedingung, dass du nichts veröffentlichst. Wehe, du verspielst sein Vertrauen!«, schnaubte Vivian.
»Nun reg dich doch nicht so auf! Ich bin nun einmal in erster Linie ein Zeitungsmann. Ich werde mir von niemandem vorschreiben lassen, wie ich zu arbeiten habe. Weder von meinem Vater noch von diesem alten Zausel. Außerdem werde ich es ihm wohl kaum auf die Nase binden, dass ich doch etwas schreibe!«
»Du willst ihn also hintergehen? Das ist gemein! Das hat er nicht verdient.«
»Ich bin diesem Mann gar nichts schuldig.«
»Jetzt verstehe ich. Es sind ja auch nicht deine Vorfahren, um die es hier geht!«, fauchte Vivian. »Du hast dich ja bestens mit den Lügen des Bischofs eingerichtet und alle Vorteile in seinem Haus genossen, aber mich hat man aus einer fernen Welt hierher verpflanzt. Ich habe nicht geahnt, was mich in Neuseeland erwartet, aber jetzt ergibt alles einen Sinn. Vielleicht erfahre ich endlich, warum ich weder die Alabasterhaut meiner Mutter noch die rotblonden Locken des Bischofs geerbt habe. Verdammt, es geht um mein Leben. Wer ist diese Frau, die der Maori so verehrt? Und wer ist jene, mit der ich angeblich solche Ähnlichkeit besitze ...«
»Ist schon gut, Vivian, es ist ja alles gut. Ich verstehe doch, wie wichtig das für dich ist«, unterbrach Fred ihre flammende Rede und versuchte sie in die Arme zu nehmen, doch sie entzog sich seiner Annäherung.
»Wenn du mir nicht augenblicklich in die Hand versprichst, dass du niemals etwas darüber schreiben wirst, gehe ich allein. Und dann werde ich ihm die Wahrheit sagen. Auch über dich! Ihr könnt mich nicht dazu zwingen, eure Lügen mitzutragen. So, und jetzt versprich es mir!«
Vivian streckte dem jungen Mann forsch die Hand entgegen, aber er verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
»Ich lasse mich nicht von dir erpressen. Ich habe mir das mit Peter Newmans Lügen nicht ausgedacht, aber er war immer gut zu mir, und deshalb ...«
Vivian aber hörte ihm gar nicht mehr zu, sondern wandte sich um und ging.
»... und deshalb werde ich nicht zulassen, dass du seine Karriere zerstörst!«, brüllte Fred ihr hinterher.
Sie blieb stehen und schrie zurück: »Um ihn geht es dir doch gar nicht. Deine Karriere ist dir wichtiger als alles andere. Und die könntest du vergessen, wenn die Wahrheit ans Licht käme und deine Freundin erführe, dass du ein anderer bist, als du es vorgibst zu sein! Dann bist du nämlich ein australischer Niemand und nicht mehr der Sohn des Bischofs!«
Dann wandte sie sich wütend um und eilte mit gesenktem Kopf die Straße entlang in Richtung Hotel. Sie war völlig durcheinander und hatte Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken. Es ist nicht fair von mir, ihm zu drohen, dachte sie beschämt, um gleich darauf wutschnaubend die Fäuste zu ballen bei dem Gedanken, dass er doch nur an seine Karriere dachte.
Erst als sie mit jemandem zusammenstieß, hielt sie abrupt inne. Sie hob den Kopf und blickte in Bens spöttisch blitzende braune Augen.
»Wohin so schnell des Weges, schöne Frau? Ich habe gerade überlegt, wo ich Sie wohl finden würde. Ich habe vorhin eine Kleinigkeit vergessen. Nämlich Ihnen zu sagen, dass ich Sie Wiedersehen möchte. Was halten Sie davon, wenn ich Sie nachher zum Essen ausführe?«
»Nein, heute geht es nicht. Ich muss mich ausruhen, denn Matui Hone Heke hat uns morgen früh zu sich eingeladen ...« Sie stockte. Sie dachte an Freds mahnende Worte. Nicht, dass sie Ben zu viel verriet!
»Oh, das hat der Kollege aber nur Ihnen zu verdanken. Ich habe vorhin mit angesehen, wie fasziniert der Alte von Ihnen war. Da haben er und ich übrigens etwas gemeinsam. Vielleicht hat er geglaubt, Sie hätten auch Maori-Wurzeln ...« Er unterbrach sich und musterte Vivian durchdringend. »Oder stimmt das vielleicht sogar?«
»Da muss ich Sie enttäuschen«, erwiderte Vivian in scharfem Ton. »Ich komme aus London und bin vorher noch nie weiter gereist als bis nach Brighton. Meine Mutter stammt aus Wales und hat keine Verwandten in Neuseeland.«
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Wie heißen Sie überhaupt?«
»Vivian Taylor.«
»Miss Taylor, es wäre mir ein Vergnügen, Sie morgen zu treffen. Dann können wir auch ein wenig darüber plaudern, was Matui Hone Heke Ihnen so erzählt hat.«
Erschrocken blickte sie ihn an. Fred hatte also recht gehabt. Er wollte sie nur ausfragen. Doch dann zwinkerte Ben ihr verschwörerisch zu und bemerkte schmunzelnd: »Sie haben geglaubt, dass ich Sie nur treffen möchte, um an Informationen zu gelangen, nicht wahr?«
Vivian lief rot an.
»Hat Ihnen das der werte Kollege erzählt? Vielleicht arbeitet er so, aber ich für meinen Teil bin in erster Linie an einem Abendessen mit Ihnen interessiert. Sie sind eine bemerkenswerte junge Frau, und mir gefällt die Art, wie Sie sich kleiden.«
Vivian kämpfte mit sich. War er wirklich nur ein charmanter Lügner? Oder war nicht eher Fred der Unaufrichtige von beiden?
Vivian konnte sich nicht helfen. So treuherzig, wie Ben sie gerade ansah, traute sie ihm nicht zu, sich nur mit ihr zu verabreden, um sie auszufragen. Und nachdem Fred ihr gerade sein wahres Gesicht gezeigt hatte, sah sie keinen Grund, Ben ihm zuliebe einen Korb zu geben.
»Gut, Sie können mich morgen am frühen Abend im Hotel abholen.«
»Es gibt hier weniger als eine Hand voll Unterkünfte. Sie wohnen sicherlich im Whangarei Hotel, nicht wahr?«
Vivian nickte. Ben reichte ihr seinen Arm. »Ich bringe Sie zum Hotel. Eine Frau allein in der flirrenden Mittagshitze ...«
Weiter kam er nicht, weil er von einer spöttischen Stimme unterbrochen wurde. »Richtig, eine Frau allein, das wollen wir doch nicht...« Und schon hatte Fred Vivian geschickt untergehakt und sie mit sich fortgezogen. »Auf Wiedersehen, Ben!«, rief er dem verdutzten Reporter aus Wanganui zu.
»Was fällt dir ein?«, knurrte sie.
»Das wollte ich dich auch gerade fragen«, gab er wütend zurück. »Oder willst du mir etwa erzählen, er habe sich nicht wie eine Klette an dich gehängt, um an Matui Hone Heke heranzukommen ?«
»Da muss ich dich enttäuschen. Es geht ihm ausschließlich um ein Abendessen mit mir.«
»Dann pass nur auf, dass er dich dabei nicht ausquetscht wie eine Zitrone ... Wir sind da. Ich habe noch zu arbeiten. Gehen wir nachher gemeinsam etwas essen?«
»Nein, vielen Dank! Ich esse nicht mit jemandem, der mit gespaltener Zunge spricht.«
Statt beleidigt zu reagieren, lachte Fred. »Du redest schon genauso wie der alte Maori. Gut, dann schlaf eine Nacht drüber. Wir sehen uns morgen früh, und ich hoffe sehr, dass du dann wieder bessere Laune hast.«
»Tu das nicht ab, als wäre ich launisch. Ich bin wütend, weil du dein Wort nicht hältst. Das ist kein guter Charakterzug. Und daran wird sich auch bis morgen nichts ändern.«
»Wir sehen uns morgen früh um acht hier an der Rezeption. Und denk bitte daran - wir müssen auf den Berg steigen und fast eine Stunde lang durch den Busch wandern. Da ist solche Kleidung vielleicht nicht angebracht.«
»Solange du mir nicht versprochen hast, dass du nichts darüber schreiben wirst, werde ich dich auf keinen Fall mitnehmen.«
»Du mich?« Er lachte dröhnend. »Noch bin ich es, dem der Alte die Geschichte erzählen will.«
»Das kann sich schnell ändern«, giftete Vivian zurück.
»Oho, du willst mir drohen! Wenn das mal kein guter Charakterzug ist«, konterte er und verschwand fröhlich pfeifend. Vivian blickte ihm fassungslos hinterher. War das sein wahres Gesicht? War er doch nichts weiter als ein karrierebesessener Zeitungsmann, der für einen guten Artikel über Leichen ging? Begriff er nicht, dass es nicht mehr um einen Zeitungsartikel ging, sondern um ihr Leben? War seine Freundlichkeit nur gespielt gewesen? Konnte er sich nicht vorstellen, wie sie sich fühlte, nachdem binnen eines Tages so vieles über sie hereingebrochen war?
Ihr wurde allein bei dem Gedanken so schwindelig, dass sie sich am Empfangstisch festhalten musste. Sie atmete ein paarmal tief durch. Ob ihre Mutter geahnt hatte, was sie hier erwartete? Hatte sie gehofft, dass sie, Vivian, endlich erfahren würde, welches Geheimnis sie umgab? Ein Geheimnis, das Mary vielleicht sogar gekannt und mit ins Grab genommen hatte?
Mit einem Mal fiel Vivian der Brief ihrer Mutter ein, und der Gedanke, unter Umständen gleich mehr zu wissen, verlieh ihr beinahe Flügel. Kaum im Zimmer angekommen, stürzte sie sich auf ihren Koffer und zog den Umschlag aus einem Seitenfach.
Mit klopfendem Herzen begann sie zu lesen.
Geliebte Vivi, ich weiß, Du wirst mich verfluchen und Dich fragen, warum ich Dich zu Deinem Vater geschickt habe. Es ist nicht mehr als eine bloße Hoffnung, warum ich es getan habe. Ich weiß nicht wirklich, warum er am Tag nach Deiner Geburt spurlos verschwunden ist und für mich nur noch in Form von großzügigen Geldbeträgen vorhanden war. Du wirst es nicht glauben, Kleines, aber wir haben uns geliebt. Er plante, nach Neuseeland zurückzukehren und mich nach der Hochzeit mitzunehmen. Seit er allerdings von meiner Schwangerschaft erfahren hatte, wurde er beinahe schwermütig, und er erfand immer neue Ausreden, die Hochzeit zu verschieben. Schließlich kamst Du zu früh zur Welt, und als er Dich sah, hat er befremdlich reagiert. Er wiederholte immerzu, dass der Fluch seiner Herkunft ihn nun eingeholt habe. An jenem Tag versicherte er mir, dass er mich von Herzen liebe und auch Dich. Und dann ist er niemals wiedergekommen. Ich weiß, Du hasst ihn, aber glaub mir, er ist kein schlechter Mensch. Es muss einen Grund geben, weshalb er nicht bei uns bleiben konnte und warum er Dich selbst jetzt nicht bei sich aufnehmen wollte. Einen Grund, der stärker ist als die Liebe. Trotz allem ist er Dein Vater und Du gehörst zu ihm, wenn ich einmal nicht mehr bin. Ich weiß, dass es nur zu Deinem Besten ist. Deshalb habe ich Dich angelogen und behauptet, er erwarte Dich. Wenn Du gewusst hättest, dass er Dich nicht haben will, dann wärst Du bestimmt niemals an Bord des Schiffes gegangen. Finde heraus, was mir nicht gelungen ist. Ich habe es natürlich versucht. Damals, nachdem ich wieder auf den Beinen war, habe ich alles unternommen, um zu erfahren, was ihn zu dieser Untat getrieben hat. Aber das Einzige, was ich erfuhr, war die Tatsache, dass er das nächste Schiff nach Australien bestiegen hatte. All die Jahre habe ich es dabei belassen, bis ich krank wurde. Da wusste ich, ich darf Dir die Wahrheit nicht länger vorenthalten. Was ihn auch immer zu seiner überstürzten Fluchtaus London veranlasst haben mag, Du bist und bleibst sein Kind! Und Du bist nach meinem Tod keine Waise! Über seine Geldzuwendungen habe ich seine Adresse herausbekommen und ihn genötigt, Dich aufzunehmen. Er hat niemals gesagt, dass er Dich willkommen heißt, aber Du bist so ein starkes Menschenkind. Ich wünsche Dir von Herzen, dass es Dir gelingt, sein Geheimnis zu ergründen. Ich war zu schwach, doch Du wirst es schaffen. Bitte, hass mich nicht dafür, dass ich Dich gegen seinen Willen zu ihm geschickt habe. Nur dort in seiner Heimat wirst Du erfahren, warum Du anders bist als andere, denn ich glaube, diese Andersartigkeit ist der Schlüssel zu allem. Ich liebe Dich über alles. Mom
»O Mom, wenn du nur wüsstest«, schluchzte Vivian verzweifelt auf.